Augen

Von der therapeutischen Gemeinschaft zur personzentrierten Psychotherapie

Zur Psychiatriereform in Leipzig und der Ideengeschichte Klaus Weises


Von Ulrich Kießling


Seiten 3-4

Seite3
Frido Mann charakterisiert ihn in seinem autobiografischen Buch »Professor Parsifal« sehr treffend, nur dass er einen anderen als Stasispitzel vermutet; der Anthroposoph Albert schien ihm unverdächtig.
1958 übernimmt Weise eine Oberarztstelle an der psychiatrischen Abteilung, die damals im Gebäude A1 in Leipzig-Dösen untergebracht ist. Hier wird ab 1961 Gruppentherapie eingeführt, seit 1963 gibt es Tagespatienten, die die Klinik aufsuchen (wie Berufstätige) und in ihrer Freizeit zu Hause leben. 1964 werden während der Abwesenheit des Direktors Müller-Hegemann die ersten Fenstergitter entfernt. Ab 1965 gibt es eine Angehörigengruppe, 1966 erfolgt die Öffnung aller Türen, die Entfernung der verbliebenen Gitter. Eine spürbare Folge ist eine deutliche Reduzierung von Zwangsbehandlungen. Patienten lassen sich jetzt eher freiwillig auf eine Behandlung in der Klinik ein. 1967 wird der erste »Therapeutische Club« zur Unterstützung sozialer Freizeitaktivitäten der Patientinnen und Patienten gegründet. Das Prinzip der Therapeutischen Gemeinschaft wird eingeführt, die Hierarchien werden flacher mit dem Ziel multiprofessioneller Teamarbeit. 1969 folgt die Aufhebung der Geschlechtertrennung, die Abschaffung der Krankensäle und Isolierzellen. In dieser Zeit beschäftigt Weise auch die ersten ehemaligen Patienten als Mitarbeiter. 
Otto Bach, Weises wichtigster psychiatrischer Kollege, kommt 1961 an die Klinik. Bach, Gastwirtsohn aus Borsdorf, ein umgänglicher bodenständiger Mensch, bringt das ein, was seinem späteren Chef fehlt. Er kommt auch mit gewöhnlichen Menschen klar, nicht nur mit »Verrückten«, er wird nicht als Bedrohung erlebt wie der intellektuelle Weise. 1969 wird Bach Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik. 
Ab 1973 schließlich wird Weise Professor und Direktor der Psychiatrischen Klinik. Nun strebt er die Verantwortung für ein eigenständiges Regelversorgungsgebiet an. Ab 1975/76 ist die Klinik zuständig für die beiden traditionellen Leipziger Südbezirke 7010 (ursprünglich überwiegend bürgerlich und Ort der Arztpraxis seiner Mutter) und 7030 (eher kleinbürgerlich und teilweise proletarisch). Die Klinik dringt also ein in die Lebenswelt ihrer Patienten. »Sagt jemand seine Adresse, hat man vor Augen, wo das ist und wer dort wohnt«, sagt Weise einmal. Die ambulante Versorgung (des Sektors Leipzig Süd) teilen sich die Uni-Psychiatrie und die Poliklinik Leipzig Süd. Ab 1984 zieht die Psychiatrie aus der Anstalt Dösen, die außerhalb des Sektors liegt, in die Liebigstraße um, direkt ins klinische Viertel der Unikliniken am Rande des Versorgungsgebiets. Die Integration in die allgemeine Medizin scheint damit erreicht, wie auch die Integration ins Allgemeinkrankenhaus. Dass die somatischen Fächer die Anwesenheit der Psychiatrie eher erduldeten als schätzten, stand auf einem anderen Blatt.
Bis dahin interessiert sich Weise eher für strukturelle Reformen; er hält die Chronifizierung Psychosekranker für einen Artefakt der Unterbringung. Wer jahrelang ohne Privatsphäre in Sälen leben musste, konnte seiner Meinung nach nur abstumpfen.
Nachdem diese äußeren Veränderungen erreicht sind – zudem die meisten ehemaligen Patienten mit Reha-Arbeitsplätzen und eigenen Wohnungen versorgt sind –, kommen die persönlichen (inneren) Verletzungen und emotionalen Entwicklungsstörungen mehr in den Blick. Noch bevor der Umzug der Klinik in die Stadt vollzogen ist, etwa ab 1978, wird die personzentrierte (auch klientzentrierte) Psychotherapie als Basiskonzept der psychiatrischen Behandlung an der Uniklinik eingeführt. Der Hauptprotagonist für die Weiterbildung, welche Übungskurse, Fall-Supervisionen, auch Teamsupervisionen bis hin zum Team der Klinikleitung umfasst (aber keine geschützte Selbsterfahrung, etwa im Sinn einer Lehranalyse) und der in gewisser Hinsicht das therapeutische Konzept der Klinik völlig neu begründet, ist der westdeutsche Psychologe Frido Mann. Der (angebliche Lieblings-) Enkel von Thomas Mann hatte ursprünglich Musik und katholische Theologie studiert, bevor er sich der klinischen Psychologie zuwandte. Er war als Theologe und nicht als Psychologe promoviert, hätte sich also nicht in Psychologie habilitieren dürfen. Sein partnerschaftliches Modell der Konflikt- und Problemlösung, in einer wissenschaftlichen Arbeit zusammengefasst, wurde schließlich an der Karl-Marx-Universität als Habilitationsschrift (Dr. sc.) anerkannt.

Seite4
Dieser Vorgang ist meines Wissens einmalig in der Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen [5] . Klaus Weise hat im Wesentlichen bewirkt, dass die akademischen wie die politischen Widerstände überwunden werden konnten. Was macht die Gesprächspsychotherapie, eine Methode die an einem College im mittleren Westen der USA erfunden wurde, für die ostdeutsche Reformpsychiatrie so interessant? Carl Rogers‘ Grundüberzeugung »Das Leben ist keine Krankheit« ist auch eine der theoretischen Prämissen Klaus Weises. Selbst Psychosen sind für ihn eher Formen des Lebens. Anders als die meisten seiner Fachkollegen in Ost und West besteht er darauf, dass selbst die Psychosen weniger als Krankheiten zu verstehen seien, denn als – mit Ludwig Binswanger gesprochen –, Formen missglückten Daseins. Gleichermaßen bedeutungsvoll für sein Denken ist auch Manfred Bleulers Bild einer besonderen Entwicklung: »Nach unserem heutigen Wissen bedeutet Schizophrenie in den meisten Fällen die besondere Entwicklung, den besonderen Lebensweg eines Menschen unter besonders schwerwiegenden inneren und äußeren disharmonischen Bedingungen, welche Entwicklung einen Schwellenwert überschritten hat, nach welchem die Konfrontation der persönlichen inneren Welt mit der Realität zu schwierig und zu schmerzhaft geworden ist und aufgegeben worden ist.« Weise ist der Überzeugung, die knappe Ressource Psychotherapie müsse zuerst denen zukommen, die sie am nötigsten hätten, also denjenigen, die am meisten litten, was seiner Ansicht nach die Psychose-Erfahrenen waren und nicht die »Neurotiker«, die nach klassischer Ansicht auch für die Psychoanalyse geeignet sind. Dass die Psychoanalytiker ursprünglich skeptisch waren in der Behandlung von »Psychotikern«, war ihm so wenig entgangen, wie die Tatsache, dass vor allem in der Schweiz, ausgehend von Gaetano Benedetti, die analytische Psychosentherapie neue auch behandlungstechnische Impulse erhielt; ja selbst die Freunde in Hannover, Karl Peter Kisker und Erich Wulff, arbeiteten mit einem analytisch unterbauten Konzept der Psychosentherapie. Klaus Weise konnte seine Skepsis gegen psychodynamische Konzepte nicht überwinden, obwohl er mit Freude Nietzsches Bonmot (1886) zitierte: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis, ›das kann ich nicht getan haben‹, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich - endlich gibt mein Gedächtnis nach.« Ähnlich wie Klaus Dörner, der mit Ursula Plog, die auch Gesprächspsychotherapeutin war, zunächst in Hamburg eine sozialpsychiatrische Musterabteilung aufbaut, favorisiert Weise die aus der sogenannten humanistischen Psychologie entwickelte personzentrierte Methode. Die personzentrierte Störungs- und Persönlichkeitstheorie ist konsequent subjekttheoretisch angelegt und kommt damit um viele Probleme herum, die z.B. in der klinischen Psychopathologie oder in der psychodynamischen Theorie breiten Raum einnehmen: Hier verbergen sich viele ungelöste Fragen, die aus personzentrierter Perspektive nicht zum Problem werden. So führt Rogers etwa das früher auch von ihm problematisierte Thema der Übertragung auf eine Art Fehlhaltung des Therapeuten zurück: Wenn der Therapeut nur die an ihn adressierten Gefühle und Vorstellungen vorbehaltlos akzeptierend versteht, dann löst sich die Übertragung eben im Laufe des Prozesses auf. Das ist natürlich ein Mythos. Hier besteht ein unüberbrückbarer Konflikt zwischen personzentrierter und psychodynamischer Haltung. Der ist geringer im Vergleich mit Vertreterinnen und Vertretern der intersubjektiven und relationalen Schule (wie z.B. Merton Gill, Jessica Benjamin oder Robert D. Stolorow, Bernard Brandchaft, George E. Atwood) – zwischen personzentrierter Therapie und Kleinianern oder anderen objektbeziehungstheoretischen Schulen, die vieles zum Verständnis der Psychosen beigetragen haben, ist er unüberbrückbar: Personzentrierte Konzepte stehen durchaus in einer Art Ergänzungsreihe zu bestimmten psychodynamischen Konzepten; es gibt eine beachtliche Schnittmenge.


[5] Westdeutsche konnten sich in der DDR nicht wissenschaftlich graduieren. Ausnahmen bildeten lediglich übergelaufene Agenten, die an der Stasihochschule in Potsdam Eiche promovierten. Auch für die Uni Leipzig sind solche Promotionen nachgewiesen.


zum Seitenanfang Dreieck