Augen

Von der therapeutischen Gemeinschaft zur personzentrierten Psychotherapie

Zur Psychiatriereform in Leipzig und der Ideengeschichte Klaus Weises


Von Ulrich Kießling


Seiten 5-6

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Jedoch je mehr ein psychodynamisches Konzept von kleinianischen Ideen beeinflusst ist, desto stärker handelt es sich um ein alternatives Konzept im Sinne des gegenseitigen Ausschlusses.
Ähnlich verhält sich das personzentrierte Konzept zur allgemeinen und klinischen Psychopathologie. Jaspers‘ Prämisse vom psychologischen Verstehen vs. naturwissenschaftlichem Erklären von psychischen Erkrankungen hat Weise zumindest in den letzten Jahren seiner klinischen Tätigkeit auch für psychotisch Erkrankte nicht mehr anerkannt, während er Jaspers Haltung der Psychoanalyse gegenüber, diese sei weniger verstehend als entlarvend, bis in seine letzten Lebensjahre als sehr angemessen empfand. Als er bei einem wissenschaftlichem Kolloquium auf eine größere Gruppe von Psychoanalytikern traf, äußerte er sich sehr anerkennend; die hätten sich freundlich und wertschätzend verhalten (nicht entlarvend), fast habe man das Gefühl gehabt, es handle ich um personzentrierte Therapeuten.
Die personzentrierte Praxis ist wohl nach wie vor um die zentralen Topi »Einfühlung und Verstehen«, »Beziehungsklären« und »Selbstöffnen« organisiert; diese Praxisformen sind relativ genau beschrieben, und seit vielen Jahren bereits liegen sorgfältige Studien vor, die die Wirksamkeit der therapeutischen Basisvariablen belegen. Nicht nur das: Die Effektstärke scheint zu steigen, wenn Therapeutinnen und Therapeuten diese Variablen besonders kongruent verkörpern. Da sich diese Forschungen nicht um die gesundheitspolitisch gewollte Methode der randomisierten, verblindeten Vergleichsstudien RCT kümmern, hat die personzentrierte Psychotherapie bis heute mit einer skeptischen Beurteilung durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie beim Gemeinsamen Bundesausschuss unter dem Dach der Gesetzlichen Krankenversicherung zu kämpfen. Gerade diese Schnittmenge zwischen phänomenologischer Subjekttheorie und personzentrierter Methode war es aber, die Klaus Weise so entschieden für die personzentrierte Methode einnahm. Er engagiert mit Frido Mann einen Gesprächstherapeuten, der die Methode insofern weiterentwickelt, als eine Trennung der Sach- und Beziehungsthemen besser durchführbar war als in der klassischen Gesprächstherapie. Für die Klinik mit ihren zum Teil hochgradig (beziehungs-)gestörten, überwiegend psychotischen, abhängigen und geriatrischen Patienten ist diese Methode geeigneter als die Arbeit mit zuvorderst emotionalem Fokus.
Mann leitet Inhouse-Fortbildungen für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der psychiatrischen Uniklinik. Weise selbst absolviert den Kurs drei Mal und tritt ab dann als entschiedener Vertreter der personzentrierten Methode auf.
Während meiner Zeit an der Uniklinik erlebte ich also personzentrierte Psychotherapie als Hauptverfahren und gleichzeitig als reflexiven Horizont klinischen Handelns. Eine ähnliche Ausrichtung gab es m. W. auch in Westdeutschland selten, allenfalls in Ursula Plogs Tageskliniken an der Karl Bonhoeffer Nervenklinik. Da die personzentrierte Methode bis heutein der Bundesrepublik Deutschland nicht als anerkanntes Therapieverfahren gilt [6] und somit auch kein Richtlinienverfahren ist, führt sie bis heute ein Schattendasein; verbreitet ist sie besonders als Methode der klientzentrierten Gesprächsführung in der sozialen Arbeit und als Interventionsmethode in der klinischen Psychologie.
Weises Option für die Phänomenologie folgt einer Spur der subjektorientierten Psychiatrie, die letztlich von Ludwig Binswanger in Kreuzlingen erfunden wurde. Binswanger stand immer der Psychoanalyse nahe, war aber doch der Meinung, dass diese bestimmte anthropologische Prämissen der menschlichen Existenz nicht ausreichend würdige und somit daseinsanalytisch über die Psychoanalyse hinausgegangen werden müsste.


[6] 2000/2002 stellte der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie die Wirksamkeit der PZP für fünf Indikations­bereiche bei Erwachsenen fest, 2008 entschied der Gemeinsame Bundesausschuss jedoch gegen die sozialrechtliche Anerkennung des Verfahrens

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Die anthropologische Fundierung (humanistisch versus technizistisch) nimmt in der personzentrieren Psychotherapie relativ breiten Raum ein (vgl. Finke, 2019); sie  legitimiert sich vor allem durch ihr Menschenbild, was Stärke und Schwäche zugleich ist. In der radikalen Subjektorientierung kann ein großes emotionales Potenzial liegen, gleichzeitig macht das nicht-direktive Moment die Therapie anfällig für eine ideologisch-verklärte Leugnung der tatsächlichen Machtverhältnisse. Das Menschenbild bezieht sich auf die im weitesten Sinn subjekttheoretischen Anthropologien in Folge der Lebensreformbewegung – Finke nennt Henry Bergson, Wilhelm Dilthey, Martin Buber, Michel Foucault. Ludwig Binswanger kommt in Gestalt seiner heutigen Vertreterin Alice Holzey-Kunz zur Sprache, und selbst die Protagonisten der kritischen Theorie, deren Kritik des »Psychologismus« nicht nur Erich Fromm betraf, sondern implizit auch Carl Rogers eingeschlossen hätte, werden als Vertreter dieser philosophischen Grundhaltung beansprucht. Sicher ist eine Vermittlung zwischen kritischer Theorie und Existenzialismus in einer humanen Praxis möglich, die Versuche das auf einer ostdeutschen Insel in der Zeit des kalten Krieges, des real existierenden Sozialismus und zuletzt in der Zeit der friedlichen Revolution zu unternehmen fanden schließlich keine Nachfolger. 

Für die am Reformprojekt in Leipzig Beteiligten entsprach ihr Arbeitskontext in der psychiatrischen Klinik – gestützt durch die institutionelle Macht der Wissenschaft und ihre hier beschriebenen Protagonisten –  einer sicheren inneren Orientierung und Existenz angesichts der ansonsten [7] alles vereinnahmenden Parteiideologie.
In seinem Text über die Arbeit an der Klinik in Leipzig beschreibt Frido Mann an einer Stelle die Atmosphäre im Speisesaal, der im Festsaal und gleichzeitig der Anstaltskirche des Krankenhauses untergebracht war: Wie Patienten, Ärzte und Pflegekräfte bunt durcheinander saßen, sich gegenseitig Kuchen zum Dessert kauften und laut miteinander sprachen, erschien nicht nur ihm bemerkenswert. In meiner Erinnerung ist es wohl einer der Orte, die ich in der Gegenwart am meisten vermisse, und sicher auch ein Ort, der verständlich macht, warum Ostdeutsche ihre auch schmerzlich veränderte, vielleicht untergegangene Heimat gelegentlich in verklärtem Licht betrachten. Auf eine Art steht dieser Ort symbolisch für das, was Klaus Weise wohl anstrebte in seinem letztlich gescheiterten Versuch Marxismus, Ontologie und Freiheit zusammen zu denken.


[7] Während des Studiums der Sozialfürsorge an der Fachschule für Gesundheits- und Sozialwesen in Potsdam hatte der Autor erlebt, dass es in der großen Bibliothek ganze 4 unter Verschluss stehende Bücher westlicher Provenienz gab. Alser die Bibliothek der psychiatrischen Klinik erstmals betrat, konnte er zunächst gar nicht glauben, dass hier sämtliche
Literatur frei zugänglich war, von der Bibliothekarin Frau Smers behütet.


 

 

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